Stellungnahme feministische Stadtplanung in Erfurt

Erläuterung unseres Abstimmungsverhaltens

Im Stadtrat im April 2023 stand auf der Tagesordnung ein Antrag der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu feministischer Stadtplanung. Der korrekte Titel lautet „Feministische Stadtplanung – Planungsqualität für alle steigern!„. Bereits im Vorfeld des Antrags fühlten sich Männer aus Erfurt von diesem Vorhaben ‚attackiert‚. So gab Christian Büttner, Vorstandsvorsitzender der Wohnungsbaugenossenschaft WBG Einheit an, sich „zutiefst beleidigt, diskriminiert und letztendlich rassistisch angegriffen“ zu fühlen. Das sagte er in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen Zeitung.

Im Stadtrat selbst fand die Debatte ihren unsachlichen Gipfel durch die Abgeordneten Dr. Urs Warweg (SPD) und Peter Stampf (Freie Wähler). Die Redebeiträge sind online noch bis zum nächsten Stadtrat am 24. Mai abrufbar, ab 1 Stunde und 41 Minuten (-1:41). Für alle, denen der Abruf nicht mehr möglich sein wird, haben wir Teile der Debatte hier zusammengefasst:

Nachdem Laura Wahl (GRÜNE) ihren Antrag schlüssig begründete, folgte ein Redebeitrag von Dr. Urs Warweg. Unter Gelächter seiner Kolleg:innen teilte er Laura Wahl und Jasper Robeck (ebenfalls GRÜNE) mit, sie seien „zu jung zum Mitreden“. Dieser paternalistische Versuch, Laura Wahl und Jasper Robeck vorhandene Fachkompetenz abzusprechen und sich selbst mehr Kompetenz aufgrund des Alters und vermeintlicher Lebenserfahrung zusprechen zu wollen, ist eines Abgeordneten unwürdig und hat weder mit der Sache feministische Stadtplanung noch mit der inhaltlichen Debatte dazu etwas zu tun.

Hohes Alter bedeutet nicht automatisch Fachkompetenz

Wir möchten Laura Wahl und Jasper Robeck an dieser Stelle unsere volle Solidarität aussprechen! Das Alter von Abgeordneten steht nicht im Zusammenhang mit ihrer Fachkompetenz. Wohl aber erkennen wir den patriarchalen Habitus des Redners darin. Ein hohes Durchschnittalter im Stadtrat von aktuell circa 50 Jahren ist für uns kein automatisches Qualitätskriterium.

Wir beteiligen heute Kinder und Jugendliche in Gremien wie u.a. dem Schüler:innen Parlament oder der BÄMM!-Struktur aktiv in der Stadtentwicklung und Stadtpolitik – die „Logik“ von Dr. Urs Warweg diskreditiert diese Beteiligungsstrukturen und entwertet jugendliches Engagement.

Ja – wir hätten gleich was sagen müssen!

Jetzt kann man uns an dieser Stelle vorwerfen, dass wir das auch im Stadtrat hätten sagen können. Ja hätten wir. Aber die zu diesem Zeitpunkt anwesenden Stadträtinnen Jana und Tina waren zu schockiert über dieses unflätige und unkollegiale Verhalten.

Wenn wir heute eine feministische Stadtplanung fordern – und wir als Mehrwertstadt schließen uns dieser Forderung an –  dann vor allem deshalb, weil sie Bereiche mitdenkt, die bisher nicht mitgedacht wurden. An diesem Punkt unterstellen wir zunächst denjenigen, die bisher für Stadtplanung verantwortlich waren, keine böse Absicht. Aber wir identifizieren hier ganz klar Lücken, die wir heute aufarbeiten und ausbesseren können. Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die – unabhängig vom Alter – jede:r erwerben oder nachholen kann.

Wir haben dazu 6 Punkte herausgearbeitet, warum dieses Thema wieder in den Stadtrat gehört und in jedem Ausschuss bei jedem Thema mitgedacht werden sollte:

Sechs Punkte, die für eine feministische Stadtplanung sprechen

Unsere Grundannahme ist: feministische Stadtplanung bezieht sich nicht auf Frauen allein, sondern beinhaltet die Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen, die im städtischen Kontext unterwegs sind.

1. Feministische Stadtplanung fördert soziale Nachhaltigkeit

Das Mitdenken dieser Dimension fördert soziale Nachhaltigkeit in städtischen Räumen aufgrund der Einbeziehung der Bedürfnisse von Gemeinschaften und sozial benachteiligten Gruppen bereits in der Planung von Stadtentwicklungsprojekten. Das meint auch die Sicherstellung des Zugangs zu erschwinglichem Wohnraum, ausreichend vorhandene Bildungseinrichtungen, eine adäquate Gesundheitsversorgung und öffentliche Verkehrsmittel für alle Menschen. Ein Ziel einer derartigen Planung ist es immer, soziale Ungleichheit abzubauen. Im Kern also ein soziales Anliegen.

2. Inklusive Gestaltung ist Bestandteil feministischer Stadtplanung

Hier geht es insbesondere um die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Anliegen aller Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung oder sozialem Status. Weiterhin denkt diese Dimension barrierefreie Zugänge für beeinträchtigte Personen mit. Das Ziel ist den öffentlichen Raum für alle Menschen gleichermaßen nutzbar zu gestalten.

3. Bekämpfung von Geschlechterstereotypen

Traditionelle Stadtplanung hat oft bestimmte Geschlechterrollen und -erwartungen verstärkt. Dazu gibt es eine umfassende Forschungsgrundlage. Der Mann bewegte sich in der Vergangenheit im öffentlichen Raum (hauptsächlich mit dem Auto), die Frau bewegte sich eher im häuslichen Umfeld – bezogen auf den Wohnort. Es geht darum, Zugang zu schaffen zur kompletten Infrastruktur für alle Menschen – und vor allem den Personen, die Sorge-Arbeit übernehmen. Wenn es in einer Stadt nicht möglich ist, Kinder wohnortnah unterzubringen, Eltern weite Wege zu Betreuungseinrichtungen auf sich nehmen müssen, um ihre Kinder dahin zu befördern, dann ist das ein Thema für feministische Stadtplanung. Es geht um das Aufbrechen des Konzeptes der Autostadt, hin zur klimagerechten Stadt. Gerade junge Menschen profitieren besonders von klimagerechten „Bring-und-Hol-Verfahren“. Ziel ist die Förderung der Gleichberechtigung aller Menschen im städtischen Raum. Hierzu die klare Empfehlung, sich mit der Lektüre „Manifest der freien Straße“ zu befassen.

4. Förderung von Sicherheit

Hier geht es explizit um die Reduzierung von Risiken im städtischen Raum durch Belästigung, Gewalt und Übergriffe. Die Implementierung von Sicherheitsmaßnahmen wie guter Beleuchtung, klarer Sichtlinien und sicherer Gehwege für alle Menschen, die bisher nicht ausreichend bedacht wurden. Das Ziel ist die Entwicklung der sicheren Stadt für alle mit der Anerkennung der Tatsache, dass dies aktuell eben nicht für alle Menschen gleichermaßen der Fall ist.

5. Feministische Stadtplanung bedeutet geschlechtergerechte Planung

Heut findet die Geschlechterperspektive bei der Gestaltung von städtischen Räumen, nicht nur von Frau und Mann, sondern unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten, die heute allgemein akzeptiert sind Berücksichtigung. In vielen Jahren von Stadtplanung, in denen unterschiedliche Geschlechtsidentitäten nicht gesellschaftlich akzeptiert waren, wurde die Geschlechterperspektive schlicht und ergreifend noch nicht mitgedacht.

6. Feministische Stadtplanung bedeutet Veränderung und Akzeptanz von Werten

Stadtplanung heute findet unter Berücksichtigung vieler Interessen statt. Und dazu muss man konstatieren, dass sich mit Klimakrise, Feminismus, gelebter Gleichberechtigung, ernstgemeinter, verbindlicher Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen sowie Senior:innen in die Bedarfe von Planung, Werte verschieben, verändert haben und weiterhin verändern werden.

Kritik der JUSOS

Ja, liebe Stadtratskolleg:innen: Die Zeiten haben sich geändert und befinden sich im Wandel. Die deutliche Kritik der JUSOS an der Rede von ihrem Genossen Dr. Urs Warweg macht diesen Wandel einmal mehr deutlich. „Wir wollen eine Stadt für Alle Menschen, ohne Angsträume mit niedrigschwelligen Zugängen zu Bildungs- und Versorgungsangeboten. Stattdessen führt der Erfurter Stadtrat Debatten zu -Ismen!“, kritisiert Annalisa Lotz (JUSO-Mitglied), die Debatte im Erfurter Stadtrat.“ – dem können wir von Herzen zustimmen.

Die Konsequenz für uns ist: Wer sich für die feministische Stadtplanung einsetzt, handelt im Sinne aller Bewohner:innen einer Stadt. Auch dem Mann. Und handelt grundsätzlich nach den Vorgaben des Grundgesetzes.

Feministische Stadtplanung ist wichtig

Wir als Mehrwertstadt haben diesem Antrag in vollem Umfang zugestimmt.

Intersektionaler Feminismus geht uns alle an. Wir werden als Fraktion Mehrwertstadt nach Wegen suchen, das Thema feministische Stadtplanung wieder einzubringen und weiterhin bei Vorhaben mitdenken. Gern auch gemeinsam. Und gern auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, die unabhängig vom Alter erworben werden können – sofern man(n) es will.

Einladung zum Projekt Stadt der Frauen „Arm und weiblich in Erfurt“

An dieser Stelle möchten wir nicht versäumen, auf eine Veranstaltung der SPD Thüringen aufmerksam zu machen – das Projekt Stadt der Frauen lädt ein zur Debatte „Arm und weiblich in Erfurt“ am 24. Mai in Erfurt von 18-19 Uhr. Das Projekt würden wir vor allem den Genossen empfehlen, die hier noch Nachbildungsbedarfe haben. Ziel ist die Diskussion von Möglichkeiten, wie von Armut bedrohte Frauen am städtischen Leben teilhaben können – also im Kern ein Planungsthema feministischer Stadtplanung und sozialer Gerechtigkeit.


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